Veranstaltungen

Möchten Sie diese Veranstaltung wirklich löschen?
Möchten Sie diese Veranstaltung freigeben?
Veranstaltungsreihe: HU_Körperdiskurse
Podiumsdiskussion

Wem gehört mein Körper? Paradoxien im Pflegealltag

Die Dialogreihe HU-Körperdiskurse sucht eine Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Perspektiven auf den differenten Körper.

Termine

Mi., 15.05.2024
18:00 Uhr - 20:00 Uhr

Standort

per zoom

Eintritt

frei

Wem gehört mein Körper? Paradoxien im Pflegealltag

 

15.05.2024, 18:00–20:00 Uhr (digital)

Humboldt-Universität zu Berlin

 

 

Dieser Vortragsabend ist Teil der Dialogreihe HU_Körperdiskurse des Lehrstuhls Pädagogik bei Beeinträchtigungen der körperlich-motorischen Entwicklung (Prof. Dr. Sven Jennessen) in Kooperation mit dem Zentrum für Inklusionsforschung Berlin (ZfIB).

Frau Wiebke Richter führt in diesen Körperdiskursabend ein, dessen zentrales Thema die Paradoxien im Pflegealltag sind. Sie lebt mit einer angeborenen Körperbehinderung. Sie ist 55 Jahre alt und zeitlebens auf umfangreiche Pflege und Assistenz angewiesen. In ihrem Beitrag „Wem gehört mein Körper? Ein sehr persönlicher Blick auf Pflegebedürftigkeit und Körperempfinden“ berichtet sie von ihren ganz persönlichen Erfahrungen als pflegebedürftiger Mensch und legt dar, was dies von klein auf für die Entwicklung ihres Körperempfindens bedeutet hat. Wie kann frau*/man sich in einem Körper zu Hause fühlen, der täglich von mehr oder minder fremden Menschen angefasst wird? Welche Rolle spielen Nähe, Distanz und Schamgefühl im Alltag und wie kann damit umgegangen werden? Warum ist es so wichtig, selbst bestimmen zu können, von wem frau*/man gepflegt wird und auf welche Art und Weise? Schließlich geht Richter auch auf Gefahren in der Pflege ein und warum sie es ganz und gar als selbstverständlich empfindet, selbst noch nie Gewalt erlebt zu haben. 

Frau Prof.*in Dr. Hartmann-Dörpinghaus erläutert in ihrem Vortrag "Die Unüberführbarkeit leiblicher Gewissheit" ihre Sichtweise zum Pflegealltag. Sie führt aus: Unser Körper ist lange Zeit schon erfolgreich im Fokus der Medizin. Er kann häufig aufgrund seiner Darstell- und Vermessbarkeit unterstützt, geheilt und „repariert“ werden. Pflege und Medizin leisten in diesem Kontext einen hohen Beitrag und der evidenzbasierte Zugang ermöglicht die Integration der derzeit besten wissenschaftlichen Belege.

Aber reicht dieser Zugang in Form einer dingontologischen Betrachtung des Körpers in der beruflichen Pflegesituation aus?

Wenn wir die Körperlichkeit des Subjekts rein mechanistisch-reduktionistisch betrachten, scheinen wir ein Störungsvermeidungswissen von Expert_innen zu benötigen. Für den hohen Zoll der Reparatur und nicht zuletzt aufgrund der Erpressbarkeit vor dem Hintergrund unserer eigenen Verletzlichkeit, Therapiebedürftigkeit und Endlichkeit scheint die Körperlichkeit, scheint der Körper im Gesundheitswesen die zentrale Größe zu sein. Problematisch scheint mir dabei, dass im Gesundheitswesen das subjektive Erleben der Betroffenen in Form der `subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins` (Schmitz) nicht mehr aufscheint. Die offensichtliche Verobjektivierung führt zu einer Verdinglichung und diese Sichtweise möchte ich aus einer anthropologisch-phänomenologischen Position der Kritik unterziehen und einen erweiterten Blick auf Menschsein wagen. 

Das Originäre im Beziehungsberuf Pflege kann nicht im Abbildbaren und dem physikalischen Festkörpermodell aufgehen: vielmehr bedarf es des Einbezugs weiterer Entitäten, denn als konstitutive Elemente einer Pflegesituation im Gesundheitssektor können Einzigartigkeit sowie Unsicherheit, Instabilität, Intransparenz, Unvorhersehbarkeit, Unüberschaubarkeit und Wertekonflikte identifiziert werden. In dieser herausfordernden Situation kann das Urteilen einer Pflegekraft sich auf nichts berufen als die Evidenz des Urteilenden selbst.  

Um dieses im Beziehungsberuf Pflege umzusetzen braucht es phänomenologisch-hermeneutische Deutungskompetenz und ein erweitertes Subjektverständnis, um den Paradoxien in der Lebenswirklichkeit von Pflege gerecht zu werden. Statt einer offensichtlich klaren Symptomorientierung muss sich die Pflegekraft in jeder individuellen Pflegesituation der Frage stellen: Was muss ich gelten lassen? Hierbei geht es nicht um die Festigung einer bestimmten Perspektive auf Pflege, sondern vielmehr darum den epistemischen Gehalt verschiedenster Herangehensweisen zu bergen und anzuerkennen, dass die Subjektgebundenheit menschlicher Erkenntnis in der Pflegepraxis nicht als Mangel zu sehen ist. 

Die Orientierungsgröße kann somit nicht das reine Symptom sein, sondern wird vielmehr von Phänomenen bzw. dem leiblichen Eindruck bestimmt. Die Bedeutsamkeit der phänomenologisch-hermeneutischen Deutungskompetenz ist für die Pflege unhintergehbar. Da die Ausbildung zur Pflegekraft stark naturwissenschaftlich geprägt ist und eine Emanzipation von den alten medizinischen Lehrmeistern und ihren Denkstilen nicht ausreichend stattgefunden hat, verwundert es nicht, dass ein erweitertes Subjektverständnis in der pflegerischen Praxis häufig unterrepräsentiert ist – dabei trifft in der Pflege nicht ein Ding auf ein Ding. 

Will eine Pflegekraft die Singularität (Arendt) der Kranken und Pflegebedürftigen wirklich ernst nehmen, muss sie neben der Einzigartigkeit von Person und Situation auch eine ontologische Auseinandersetzung ohne dingliche Anbindung in ihrer Praxistätigkeit miteinbeziehen, wie Atmosphären, Stimmungen oder leibliche Eindrücke. Die Neophänomenologie bietet mit ihrem Leib- und Situationsverständnis hierfür eine ontologische Basis. 

 

 

Referent*innen

Wiebke Richter, Diplom-Psychologin, ist in ihrer Tätigkeit in einer Beratungsstelle für Menschen mit Behinderung sowie als Stadträtin für Soziales, Bildung und Kultur engagiert. Sie setzt sich besonders für die Integration von Geflüchteten und Migrant*innen, die Gleichstellung von Frauen und vor allem für die Förderung von Barrierefreiheit und Inklusion ein. Als Rollstuhlfahrerin und auf Assistenz angewiesen, verfügt sie über persönliche Erfahrungen, die ihr Verständnis und ihre Sensibilität für die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen vertiefen. Frau Richter ist eine geschätzte Ansprechpartnerin für verschiedene soziale und kulturelle Vereine sowie Gruppierungen, die sich für eine inklusive Gesellschaft einsetzen.  

Prof.*in Dr. Sabine Hartmann-Dörpinghaus hat die Professur für Hebammenwissenschaft an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen inne. In ihrer akademischen Arbeit konzentriert sie sich auf verschiedene Forschungsschwerpunkte im Bereich des Gesundheitswesens. Dazu gehören die Hermeneutik und Phänomenologie im Kontext des Gesundheitswesens, phänomenologisch-hermeneutische Ansätze im Fallverstehen in der Peripartologie sowie die philosophische Anthropologie und Ethik im Gesundheitswesen. Eine ihrer aktuellen Veröffentlichungen ist das Werk "Ethische Aspekte in der Anleitung. Aufbauseminar für Praxisanleiter_innen" (Hartmann-Dörpinghaus, 2024), veröffentlicht von den GFO-Kliniken Bensberg. Dieses Werk trägt zur Diskussion und Reflexion ethischer Fragen im Ausbildungskontext im Gesundheitswesen bei.

 

Kostenfreier Onlinezugang zur Veranstaltung über folgenden Link:

 

https://hu-berlin.zoom-x.de/j/62561881005?pwd=cEdEUEhvNmh5em91RjJxMTdJZTljZz09

 

Zu den Vorträgen wird eine automatische Dolmetschung in Schriftsprache angeboten.

 

Die Veranstaltungsreihe HU-Körperdiskurse 

Der Körper hat in unserer Gesellschaft eine bis dato nicht gekannte Bedeutung erlangt. Er wird ausgestellt, gestaltet, präsentiert und zugerichtet und im täglichen Leben als Abbild gesellschaftlicher Praktiken erfahrbar. Auch wissenschaftlich ist der Körper in den vergangenen Jahrzehnten vor allem in der Soziologie zunehmend in den Blick des Interesses gelangt. Pädagogisch ist die Bedeutung des Körpers für Entwicklung, Bildung und Teilhabe bislang jedoch nur marginal beachtet worden, wobei Fragen diverser Körper im Zusammenhang mit anderen Diversitätsdimensionen zunehmend in den Blick geraten und im Kontext intersektionaler Zugänge gedacht werden. 

Auf Grundlage dieser Entwicklungen soll die Dialogreihe HU-Körperdiskurse eine Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Perspektiven auf den differenten Körper ermöglichen, der in der Regel als in unerwünschter Weise anders interpretiert wird. Hierbei werden verschiedene fachwissenschaftliche Perspektiven von renommierten Vertreter*innen ihrer Disziplin vorgestellt und in einem sich daran anschließenden diskursiven Format reflektiert. Die unterschiedlichen fachlichen Referenzen eröffnen grundlegende Rekonstruktionen von Körper, die dann im Hinblick auf diverse Körper weitergedacht werden.

 

 

Veranstalter

Lehrstuhl „Pädagogik bei Beeinträchtigungen der körperlich-motorischen Entwicklung“ 

Das Fach befasst sich mit den Wechselwirkungen zwischen der individueIIen körperlich-motorischen Verfasstheit eines Menschen, und seinen anderen personalen sowie interpersonellen, institutionellen und gesellschaftlichen Bedingungen, die die Durchführung von Aktivitäten und Partizipation an gesellschaftlichen Bezügen erschweren. Weitere Informationen zum Lehrstuhl finden Sie hier: https://www.reha.hu-berlin.de/de/lehrgebiete/kbp .

 

Das Zentrum für Inklusionsforschung Berlin (ZfIB)

Das Zentrum für Inklusionsforschung Berlin (ZfIB) wurde am 17. Januar 2018 gegründet. Seine Mitglieder und Kooperationspartner*innen kommen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen, zivilgesellschaftlichen und politischen Bereichen und Einrichtungen innerhalb und außerhalb Berlins. Mit unterschiedlichen fachlichen Hintergründen arbeiten und/ oder forschen sie zu Inklusion und Exklusion bezogen auf verschiedene Differenzlinien und deren Konstruktion. Dabei sind drei Anliegen für das ZfIB zentral:

 

  • die Entwicklung und Ausweitung dauerhafter Kooperationen zwischen wissenschaftlichen, zivilgesellschaftlichen und politischen Akteur*innen auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene,
  • die Stärkung eines Inklusionsbegriffs, der verschiedene Formen gesellschaftlicher Diskriminierungs-, Ausgrenzungs- und Partizipationsprozesse in den Blick nimmt und
  • die Einrichtung einer langfristigen, interdisziplinären Forschungsstruktur.

 

Weitere Informationen zum Zentrum für Inklusionsforschung finden Sie hier: https://www.zfib.org/de/ .


Weitere Informationen

Veranstalter: Prof. Sven Jennessen
Referenten: Prof.*in Dr. Hartmann-Dörpinghaus und Wiebke Richter

Zur Website der Veranstaltung

Kontakt

Prof. Sven Jennessen
Telefon: 030 2093 66730
ilona.huener@hu-berlin.de

Raum: https://t1p.de/pfsro