Ullrich Scheideler (Humboldt-Universität zu Berlin)
„Alban Bergs Weg in die Atonalität um 1910. Zeichen des Traditionszerfalls oder Versuch der Stiftung von Kontinuität?“

Der Übergang in die Atonalität, um 1909/10 in Werken der Komponisten der Wiener Schule vollzogen, ist häufig als Zeichen eines Traditionszerfalls oder einer bewussten Abwendung von Prinzipien traditioneller (harmonischen) Zusammenhangsbildung interpretiert worden – und zwar mit Folgen für die musikalische Form wie das Gefüge des Tonsatzes insgesamt. Carl Dahlhaus sprach sogar von einem „Gewaltakt“. Obwohl die Wiener Schule mit ihren Hauptvertretern Arnold Schönberg, Anton Webern und Alban Berg oft als Gruppe mit einheitlichen Ideen und Poetiken betrachtet wird, erscheint die Einschätzung, dass es sich beim Übergang zur Atonalität um einen bewusst herbeigeführten Bruch mit der Überlieferung gehandelt habe, doch eigentlich nur für Schönberg (und Webern?) zutreffend, nicht jedoch für Alban Berg.

Der Vortrag möchte Bergs Entwicklung der Jahre 1908 bis 1910 in den Blick nehmen und versuchen, die These plausibel zu machen, dass Berg in seinen ersten atonalen Werken, insbesondere in seinem Streichquartett op. 3, kaum anders komponierte als in den tonalen Werken zuvor, dass mithin die gewöhnlich als atonal bezeichneten Werke keinen Bruch, sondern eine Fortsetzung der Tradition bedeuten. In welcher spezifischen Weise dies geschieht, soll anhand der Skizzen und einigen Analysen zu zeigen versucht werden.

Ullrich Scheideler unterrichtet seit 2005 Musiktheorie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Davor war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Arnold Schönberg Gesamtausgabe. 2017–2022 war er Mitherausgeber der Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie (ZGMTH).